20 Jahre Substitutionsambulanz Grüne Straße

2003 startete im Frankfurter Ostend ein damals revolutionärer Versuch: Schwerst­ab­hän­gige Menschen erhielten dort täglich reines Heroin, statt es sich im Drogenmilieu zu beschaffen. Die Ergebnisse der sogenannten „Heroinstudie“ waren beeindruckend. Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums haben wir uns mit Chefarzt Dietmar Paul, Leiter der Substitutionsambulanz Grüne Straße (SAGS), zum Interview verabredet.

Herr Paul, Sie haben die ärztliche Leitung der Substitutionsambulanz in der Grünen Straße 2012 übernommen. Wie haben Sie die Einrichtung damals wahrgenommen? 

Ich war vor meinem Wechsel kommissarischer ärztlicher Direktor der Vitos Klinik Hochtaunus und hatte die direkte Verantwortung für den Fachbereich der Ab­hängig­keits­erkrankungen. Kriseninterventionen,  Entzugs­be­hand­lungen und motivationale Interventionen standen im Vordergrund. Während meiner langen beruflichen Tätigkeit im Bereich der Ab­hängig­keits­erkrankungen habe ich einen Para­dig­men­wechsel erlebt: weg vom therapeutischen ausschließlichen Abstinenzziel hin zur akzeptierenden „Suchtarbeit“, bei der die Überlebenssicherung an erster Stelle steht. Dieser Para­dig­men­wechsel entspricht meiner vollen Überzeugung. Trotzdem stand ich dem damaligen Projekt der diacetylmorphin-gestützten Behandlung, also mit pharmakologisch reinem Heroin, zunächst skeptisch gegenüber. Aber die Ergebnisse sprachen und sprechen ganz klar für diese Behandlungsmethode. Unsere Patienten in der Grünen Straße sind ja schwer suchtkrank und haben mehrere gescheiterte  Therapieversuche hinter sich. Für die meisten dieser Menschen ist die diacetylmorphin-gestützte Substitution lebensrettend.
 

Die Substitutionsambulanz feiert in diesem Jahr ihr 20-jähriges Bestehen. Sie waren bei der Gründung zwar noch nicht dabei, können aber von den Hintergründen der Gründung berichten. 

Von 2003 an war die Grüne Straße unter Leitung meines Vorgängers Dr. Wilfried Köhler zunächst Teil eines bundesweiten Modellprojekts: Damals wurden in der Substitutionsbehandlung noch ausschließlich Methadon und Buprenorphin als Ersatzmittel verabreicht. Eine damals gestartete Vergleichsstudie wollte herausfinden, ob die Behandlung mit Diacetylmorphin bei der Gruppe der von Opiaten schwerstabhängigen Menschen, die mit den bisherigen Methoden nicht erreichbar waren, bessere Behand­lungs­er­geb­nisse begünstigte – und das Ergebnis war eindeutig: Höhere Haltequote und eine bessere körperliche und psychische Genesung sprachen für das Diamorphin bei dieser Gruppe von Menschen. Zudem ging die Beschaffungskriminalität zurück. Die Studienergebnisse flossen 
2009 schließlich in die Gesetzgebung ein, indem der Bundestag die Vergabe von Heroin an Schwerst­ab­hän­gige erlaubte. Das war ein Meilenstein. Seitdem ist unser Substitutionsangebot in der SAGS ein Baustein des sogenannten „Frankfurter Wegs“ in der Drogenpolitik. Dazu gehören natürlich aber noch viele weitere Einrichtungen, wie das Drogenreferat der Stadt, die Konsumräume im Bahnhofsviertel und Europas größte Drogenhilfeeinrichtung, das Eastside im Osthafen.

Vollends „clean“ werden nur wenige Ihrer Patient:innen. Welche Fortschritte gehören zu den realistischen Zielen in Ihrer Arbeit mit den Suchtkranken?

Wir haben im Jahr ein bis zwei Patienten, die das Substitutionsprogramm tatsächlich erfolgreich beenden. Aber das sind Ausnahmen. Oberstes Ziel ist es zunächst, die Mortalität, also die Sterbegefahr, für die Suchtkranken zu verringern. Und im Verlauf der Zeit kann es durch intensive Betreuung gelingen, dass wir das Bedürfnis nach Rausch sukzessive verringern können. Das zeigt sich auch dadurch, dass fast alle Patienten im Laufe der langen Behandlungszeit bei uns von sich aus eine Dosisreduktion wünschen. Auch gelingt es uns, die Patienten im Laufe der Zeit von einer intravenösen zu einer oralen Substitution zu überführen. Alles in allem können wir den Gesundheitszustand von Schwerst­ab­hän­gigen nachhaltig verbessern.

Wie lange sind die Menschen der Substitutionsambulanz in Behandlung?

Sehr lange, meist zwischen fünf und sechs Jahre. Derzeit haben wir 80 bis 85 Patienten, und unter ihnen sind sogar noch einige, die schon bei der Studie 2003 dabei waren. Wenn man berücksichtigt, dass es sich um schwerstabhängige, teils erheblich desorganisierte Patienten handelt, ist diese Haltequote ein sehr großer Erfolg des Teams. 

Die Drogensituation in Frankfurt hat sich in den vergangenen drei Jahren wieder verschärft. Ist der „Frankfurter Weg“ gescheitert?

Der Frankfurter Weg beschreibt ja einen Ansatz, der aus mehreren Säulen besteht: Prävention, Therapie, Überlebenshilfe und auch Repression. Dieser Ansatz ist nach wie vor richtig. Aber der Konsum von Crack hat eine neue Situation geschaffen, und die Werkzeuge, die wir in der Heroinsubstitution haben, lassen sich nicht ohne Weiteres übertragen: Wir schaffen in der Ambulanz einen gesicherten Raum, mit dem wir Suchtkranke von der Straße bringen und einen Kontaktpunkt anbieten. Die Patienten kommen bis zu dreimal täglich zu uns. Dadurch entsteht eine Bindung zu den Patienten, auf der dann die gesamte weitere Arbeit unseres multiprofessionellen Teams aus Sozialarbeitern, Therapeuten, Pflegekräften und Ärzten fußt. Aber dieser Kontaktpunkt ist bei einer Droge wie Crack, deren Rauschzustand nur wenige Minuten anhält, nicht genauso aufbaubar.

Behandeln Sie denn auch Cracksüchtige in der Substitutionsambulanz?

Nicht direkt: Wir behandeln Menschen, die neben ihrer Cracksucht auch heroinsüchtig sind. Letzteres wird hier in der Substitutionsambulanz behandelt. Aber das Crack können wir nicht substituieren, auch weil es dafür – anders als beim pharmakologisch sauber herstellbaren Diamorphin bzw. Heroin – kein Substitut gibt. Es gibt dafür auch keine gesetzgeberische Grundlage.

Was würden Sie sich für die Zukunft der Suchtmedizin in Frankfurt wünschen? 

Wenn wir auf die 1980er und 1990er zurückblicken, dann ist es damals gelungen, Räume zu schaffen, die Drogen­abhängige von der Straße wegbringen und in denen wir mit ihnen in Kontakt treten, eine Beziehung aufbauen und Vertrauen schaffen konnten. Momentan haben wir aber leider keine zündende Idee, wie das bei Crack umsetzbar wäre. Die Suchtkranken sind schlechter zu erreichen und der Aufbau eines regelmäßigen Kontakts ist sehr schwierig. Ich finde es in Anbetracht dieser Lage überlegenswert, ob ein neues Modellprojekt im Kontext der Crackproblematik Erkenntnisse liefern könnte, wie man diese Suchtklientel in geordnetere Bahnen führen kann, um den Suchtkranken ein nachhaltiges Hilfsangebot anzubieten und so auch die Situation im öffentlichen Raum zu entlasten. Das war schon vor 20 Jahren bei Heroin nicht leicht, und bei Crack wird es noch schwieriger werden. Die Erfahrung in der Drogenpolitik sollte uns den Mut geben, wieder nach neuen Werkzeugen zu suchen. Denn mit den uns momentan zur Verfügung stehenden Werkzeugen und Einrichtungen werden wir die Lage nicht nachhaltig eindämmen können.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Substitutionsambulanz Grüne Straße

In der seit 2003 existierenden Ambulanz werden schwerstabhängige Menschen bis zu dreimal täglich mit Diamorphin, also pharmakologisch reinem Heroin, behandelt. So kann der Beschaffungsdruck aufgelöst und der Gesundheitszustand der Betroffenen durch die kontrollierte Dosierung, die Vermeidung verunreinigter Substanzen und durch hygienisches Besteck zügig verbessert werden. Durch die engmaschige ärztliche Betreuung und die Unterstützung durch Sozialarbeiter:innen, Therapeut:innen und Pflegekräften gelingt es, Schwerst­ab­hän­gigen über einen langen Behandlungszeitraum die schrittweise Rückkehr in einen strukturierteren Lebensalltag zu ermöglichen. 

Seit 2009 wird die Diamorphinvergabe an Betroffene von den Krankenkassen finanziert. Die Aufnah­me­kri­te­rien sind aber streng reglementiert und die Hürden hoch: Bei den Patient:innen muss eine seit mindestens fünf Jahren bestehende Opioidabhängigkeit, verbunden mit schwerwiegenden somatischen und psychischen Störungen, bei überwiegend intravenösem Konsum vorliegen. Zudem müssen zwei Behandlungen der Opioidabhängigkeit gescheitert sein, mindestens eine davon muss eine sechsmonatige Substitutionsbehandlung gewesen sein. Außerdem muss der Patient das 23. Lebensjahr vollendet haben. Neben Frankfurt existieren heute bundesweit elf weitere Substitutionsambulanzen.

Die Grüne Straße im Internet:

www.sags-ffm.de

 

Klinik für Ab­hängig­keits­erkrankungen

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