Zwischen Empathie und gesunder Distanz: Neuropädiatrie am Clementine Kinder­hospital

Oberärztin Marin Tenorth berichtet im Interview über ihre Arbeit in der Neuropädiatrie mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Auch wenn deren neurologische Erkrankungen erst einmal identisch mit denen von Erwachsenen erscheinen, muss die Funktion des Nervensystems immer vor dem Hintergrund der kindlichen Entwicklung betrachtet werden. Dies stellt nicht selten besondere Anforderungen an die Diagnostik und Behandlung.

Frau Tenorth, seit knapp zwei Jahren sind Sie Oberärztin der Neuropädiatrie am Clementine Kinder­hospital. Wie haben Sie zu Ihrem Beruf, Ihrer Berufung gefunden?

„Ich denke, die erste Prägung in meiner beruflichen Laufbahn habe ich durch meinen ersten Chef erfahren. Als Neuropädiater hat er mir gezeigt, dass man sich viel Zeit nehmen muss, um ganzheitlich zu schauen und die individuellen Bedürfnisse des Kindes intensiv zu beleuchten.

Anders als in der Chirurgie beispielsweise, wo ein gebrochener Arm mit Hilfe einer Schiene innerhalb weniger Wochen geheilt werden kann, ist hier eine vollständige Heilung nicht immer möglich. Bei den vielen komplexen Fällen in der Neuropädiatrie gilt es dann oft, die Umstände zu verbessern. Hier ist keine ‚Fließband-Neuropädiatrie‘ möglich - das hat mir sehr gut gefallen. Als ich 2009 ans Clementine Kinder­hospital kam, habe ich all diese Punkte auf der Neuropädiatrie wiedergefunden. Für mich war dann klar, dass ich mich hierin auch als Fachärztin spezialisieren möchte.“

Wer gehört alles zu Ihren Patienten?

„Am Clementine Kinder­hospital haben wir in der Neuropädiatrie unterschiedliche Bereiche. Wir haben zum einen die stationären Patienten, die wir in akut neuro­pä­dia­tri­sche und neurologische Frührehabilitation aufteilen. Patienten der neurologischen Frührehabilitation kommen aus allen möglichen Bereichen, meistens von anderen Krankenhäusern, zum Teil auch deutschlandweit. Viele Patienten sind verunfallte Kinder: nach schweren Schä­del­hirn­trauma, Hirnblutungen, nach Verkehrsunfällen oder nach Stran­gu­la­tions­trau­mata. Ertrinkungsunfälle beziehungsweise Beinah-Ertrinkungsunfälle, was zu schwer behinderten Kindern führen kann, fallen auch in unseren Bereich. Zusammen mit der Onkologie betreuen wir auch Kinder mit Hirn- oder Nerventumoren. Mit diesen Kindern üben wir zum Beispiel nach Operationen, alte Fähigkeiten zurückzuerlangen beziehungsweise neue dazuzulernen.

Zum Teil haben wir aber auch Kinder in der Rehabilitation, die schwere Entzündungen des zentralen Nervensystems hatten, also entweder des Gehirns oder der peripheren Nerven sowie akute Lähmungen. Und manchmal gibt es auch Kinder nach Hirninfarkten: Wie Sie sehen, ist es ein ziemlich breites Spektrum.“

Wie genau schaut es in der Akut-Neuropädiatrie aus?

„Hier behandeln wir Fälle mit akuten Infektionen der Hirnhäute oder des Hirns selbst. Neu aufgetretene oder langwierige Epilepsien, die sich plötzlich verschlechtern, können ebenfalls zu einer stationären Aufnahme des Kindes führen. Und dann gibt es noch unklare neurologische Krankheitsbilder wie schwere Kopfschmerzen, Migräne, Schwin­del­at­tacken, Gleich­ge­wichts­stö­rungen, Sensi­bi­li­täts­stö­rungen – alles was akut auftritt, kann bei uns stationär aufgenommen werden. Und da überschneidet es sich mit der neuro­pä­dia­tri­schen Ambulanz.“

Wie sehen diese Überschneidungen genau aus?

„Kinderärzte schicken Kinder oft in unsere Ambulanz, um sie neuropädiatrisch untersuchen zu lassen. Auch hier ist das Spektrum breit: Von Kopfschmerzen, Schwindel bis hin zu Gang- und Bewegungsstörungen sowie Entwick­lungs­stö­rungen, die sich auf die Motorik beziehen können. Also zum Beispiel, wenn ein Kind erst spät das Laufen lernt oder eine Entwick­lungs­stö­rung in der Sprache zeigt.“

Mit welchen Unter­su­chungs­me­thoden arbeiten Sie?

„Ein wichtiger Bestandteil sind ausführliche Anamnesen. Hilfreich hierbei sind oft auch Videoaufnahmen der Eltern. Insbesondere in der Epileptologie ist das nützlich, um epileptische Anfälle zu erkennen und zu differenzieren. In der Regel tut mir das Kind nämlich nicht den Gefallen und krampft extra für mich, sondern oft nachts zu Hause. Die darauffolgende körperliche Untersuchung beginnt zum Teil schon während der Anamneseerhebung. Gerade in der Interaktion mit den Eltern und durch Beobachten der Spontanmotorik des Kindes lässt sich viel erschließen: Sitzt das Kind gerade, wie ist die Spannung im Rumpf, wie hält es seinen Kopf, folgt es dem was es tut adäquat mit den Augen? Agiert es mit beiden Armen gleich oder bevorzugt es eine Seite? Eine Standard-Neurologische Untersuchung ist das Abklopfen der Reflexe, ich schaue nach den Hirnnerven, ist im Gesicht alles symmetrisch, sind die Funktionen alle da und teste die Systeme des Gehirns so orientierend einmal durch, gibt es Gleich­ge­wichts­stö­rungen, Koordi­na­tions­stö­rungen. Zur Neuropädiatrie gehört auch das EEG, das läuft bei vielen Neuro-Patienten parallel mit.“

Wie bauen Sie den ersten Kontakt zum Kind auf, haben Sie ‚Tricks‘?

„Ich versuche das Vertrauen des Kindes zu gewinnen. Bei einem angespannten Kind kann ich keine Reflexe abklopfen. Damit ich einen Reflexstatus erheben kann, muss die Muskulatur sich entspannen. Folglich bereitet die lange Anamnese auch darauf vor, dass das Kind mir vertraut. Gerade bei entwick­lungs­re­tar­dierten Kindern ist das wichtig, da es bei ihnen ohnehin schwierig ist, Kontakt aufzubauen. Sie müssen merken „Meine Eltern finden die Frau da ganz in Ordnung und wenn die an mich rangeht, dann toleriere ich das.“ Und das geht nicht nach zwei Minuten. Ambulant haben wir 30 bis 45 Minuten, wobei die Kleineren etwas mehr Zeit benötigen. Stationär sind wir zeitlich in der Betreuung flexibler.“

Wie werden die Eltern miteinbezogen?

„Manche Kinder untersuche ich auf dem Schoß der Eltern. Das hilft oft, wenn ich merke, dass das Kind ängstlich ist. Dann fange ich vorsichtig bei den Füßen an und schaue, ob mir das Kind den direkten Kontakt erlaubt. Anders als bei Teenagern, werden die Eltern von Kleinkindern schon in die beobachtende und berichtende Funktion miteingebunden. Dafür erkläre ich ihnen vorab, worauf sie besonders zu achten haben.“

Mit welchen Fachbereichen arbeiten Sie zusammen?

„Mit allen. Die komplex kranken Kinder brauchen oft viele Fachbereiche. So gibt es zum Beispiel Kinder mit syndromalen Erkrankungen, die zusätzlich zu einer Epilepsie eine schwere Atemstörung haben und deshalb von unseren Pneumologen betreut werden. Oft entwickeln auch schwerbehinderte Kinder aufgrund der neurologischen Problematik Fehlstellungen wie eine Skoliose. Bei Kindern mit einer tuberösen Sklerose können fast alle Organsysteme betroffen sein. Neben einer schweren Epilepsie und Hirnfehlbildung kann es auch für eine Nieren­fehl­bil­dung verantwortlich sein. In solchen Fällen gehen sie dann für einen regelmäßigen Ultraschall der Nieren in die Nephrologie. Wenn das Herz betroffen ist, dann müssen sie zur Echo­kar­dio­gra­phie. Auch mit der Rheumatologie gibt es viele Schnittstellen, viele Schmerzpatienten kommen darüber zu uns.

Berührungspunkte haben wir auch mit der Psychosomatik. Viele Patienten werden mit neurologisch verdächtigen Symptomen aufgenommen. Im Nachhinein stellt sich aber heraus, dass die Schmerzursachen in der Psyche liegen. Nicht ohne Grund umfasst unsere Station auch acht Betten mit Psychosomatik-Patienten.“

Welche Entwicklungen und damit verbundene Chancen sehen Sie in der Neuropädiatrie?

„Die Genetik gewinnt zunehmend an Bedeutung: Viele Erkrankungen, die wir vorher nur beschreibend kannten, sind heute genetisch entschlüsselt. Mittlerweile stelle ich die genetische Untersuchung häufig ziemlich an den Anfang meiner Diagnostik. Ganz sicher ersetzt sie nicht die klinische Untersuchung und Beobachtung, aber wir können dadurch den Patienten zum Teil unangenehme Untersuchungen, wie beispielsweise eine Muskelbiopsie, ersparen. Viele Erkrankungen, die früher nicht behandelbar waren, sind durch die Genforschung inzwischen behandelbar, wenn auch nicht unbedingt kurativ. Indem ich eine adäquate Therapie entwickeln kann, lässt sich die Lebenserwartung und Lebensqualität der Kinder deutlich anheben.“

Sie sprachen von der nötigen Vertrauensbasis bei Ihrer Arbeit. Wie sieht es mit Ihrer persönlichen Betroffenheit aus? Wie gehen Sie mit schweren Schicksalen um?

„In der Neuropädiatrie gibt es leider auch immer wieder Diagnosen, die eine drastisch reduzierte Lebenserwartung bedeuten. Es gibt Kinder, die wir als ganz kleine Patienten kennenlernen und bis zum Tod begleiten. Das alles geht nicht, ohne betroffen zu sein. Um weiterarbeiten zu können, ist es daher wichtig, genügend Distanz zu wahren. Bei Kindern, bei denen ich weiß, dass sich das Krankheitsbild verschlechtern wird, wappne ich mich mittlerweile anders. Im Laufe der Jahre habe ich immer besser gelernt, die bereits erwähnte Distanz zu wahren. Was mir bei den stationären Kindern geholfen hat, ist der Wechsel vom Schichtdienst in die Ober­arzt­tä­tig­keit mit dem Tagdienst. Gerade im Nachtdienst rücken die Fälle intensiver an einen heran: nachts ist man sensibler, nachts weinen die Eltern, nachts krampfen die Kinder öfter. In diesem Job muss man empathisch sein. Den Eltern ist jedoch nicht geholfen, wenn ich zusammenbreche. Ich muss da schon der stabilisierende Faktor bleiben. Dabei helfen mir gerade die Kinder mit ihrer positiven Einstellung.“

Was würden Sie als Ihre Motivation bezeichnen?

„Die Kinder sind großartig (lacht). Auf Station haben wir keine Krankheitsbilder. Wir haben Kinder, wir haben Persönlichkeiten. Die offene und direkte Art der Kinder begeistert mich immer wieder. Jedes Kind ist anders und ich freue mich, wenn ich ihr Vertrauen gewinne. Als ich noch Assistenzärztin war, haben mich gerade die verunfallten Kinder sehr mitgenommen und psychisch belastet. Doch mit der Zeit hat mir zunehmend imponiert, wie positiv fast alle Kinder sich den Heraus­for­de­rungen stellen. Ihr Lebenswille, die Art wie sie mit Schicksals­schlägen und mit neu aufgetretenen Defiziten umgehen und sich trotzdem am Leben erfreuen. Da können wir uns ein gutes Stück davon abschneiden. Seit meiner Arbeit mit den Kindern lebe ich dankbarer.“

Das Interview führte Meltem Yildiz.

 

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