Kinästhetik bei Kindern

In der Pflege wird immer häufiger von Kinästhetik gesprochen. Allgemein steht der Begriff für ein Handlungskonzept, mit dem die Bewegung von Patienten unterstützt wird. Mit Hilfe der Kinästhetik soll die Motivation des Pflege­be­dürf­tigen durch die Kommunikation über Berührung und Bewegung deutlich verbessert werden. Petra Berger arbeitet als Gesundheits- und Kinder­kran­ken­schwester auf der Früh- und Neuge­bo­re­nen­in­ten­siv­sta­tion am Bürger­hospital Frankfurt. Ihre Weiter­bildung als Zertifizierter Anwender in der Kinästhetik hat sie mit einer Arbeit zum Thema Kinästhetik bei Kindern abgeschlossen. Hier gibt sie einen Einblick in Ihre Arbeit.

Die Kinästhetik ist dabei kein neues, eigenständiges Pflegekonzept, sondern kann mit allen Pflegemaßnahmen individuell kombiniert werden. In ihrem Mittelpunkt steht die Wahrnehmung der Bewegung des Patienten, aber auch der des Pflegenden. Sie hilft, Bewegungen zu analysieren und diese gesundheitsfördern zu gestalten. Die Kinästhetik lebt von der Selbst­wahr­neh­mung und der Eigenerfahrung. Aus diesem Grund könnte man Kinästhetik auch mit „Körper­wahr­neh­mung“ übersetzen. Kinästhetik kann in allen Altersgruppen, von Frühgeborenen bis Senioren, und in allen Gewichtsklassen angewendet werden. Das Besondere daran ist, dass der Fokus nicht nur auf die Gesundheitsförderung des Patienten, sondern auch auf die des Pflegenden gelegt wird.

Die sechs verschiedenen Konzepte der Kinästhetik

Es gibt in der Kinästhetik sechs verschiedene Konzepte (siehe Grafik unten), die alle zusammenspielen. Alle Tätigkeiten und Bewegungen können mit jedem dieser Teilkonzepte durchgeführt werden. Entschließt man sich, Kinästhetik in den Pflegealltag aufzunehmen, sollte man sich zu Beginn für eines der Teilkonzepte entscheiden und möglichst jenes einsetzen, mit dem man sich am meisten identifizieren kann.

(Grafik mit freundlicher Genehmigung von Manuel Roier)

Doch nun von der Theorie in die Praxis. Den Ansatz der Kinästhetik kann man ganz einfach an sich selbst erfahren. Ich gebe Ihnen nun vier alltägliche Situationen, versuchen Sie, zumindest eine davon auszuprobieren.

Im Anschluss führen Sie die gleiche Aktivität noch einmal mit der vorgegebenen Aufforderung im Vergleich durch. Achten Sie dabei nur auf sich selbst und ihren Körper! Wenn sie möchten, können sie auch schon einen Schwerpunkt setzen. Das heißt sie können ihre Wahrnehmung z.B. auf den Teilaspekt Anstrengung legen oder auch auf Knochen und Muskeln. Beobachten Sie, wie groß Ihre Anstrengung bei den verschiedenen Varianten ist bzw. wo Sie Ihr Gewicht auf den Knochen ablegen und wo Sie sich mit Muskeln halten.

Von der Theorie zur Praxis:

1. Legen oder setzen Sie sich hin und halten Sie Ihre Füße zwei Minuten lang in der Luft. Versuchen Sie dabei, möglichst entspannt zu atmen.
VERGLEICH: Legen oder setzen Sie sich wieder hin, diesmal legen oder stellen Sie die Füße ab, achten Sie nun wieder auf Ihre eigene Atmung – was passiert?

2. Legen Sie sich ins Bett und drehen Sie sich auf die Seite ohne die Arme oder Beine zur Hilfe zu nehmen.
VERGLEICH: Legen Sie sich wieder ins Bett. Nun drehen Sie sich auf die Seite, indem Sie ein Bein oder einen Arm auf die Seite nehmen, auf die Sie sich drehen möchten. Sie können auch Ihrem Partner die Hand geben und sich auf die Seite ziehen. (Wichtig: Wenn Sie auf dem Rücken liegen und sich nach links drehen möchten, müssen Sie den rechten Arm oder das rechte Bein nehmen!) – was passiert?

3. Setzen Sie sich auf einen Stuhl und stehen Sie auf, ohne sich abzustützen. VERGLEICH: Setzte Sie sich wieder auf einen Stuhl, nun stützen Sie sich beim Aufstehen aber ab. Oder noch besser, Ihr Partner hilft Ihnen beim Aufstehen und gibt Ihnen die Hände zum Hochziehen – was passiert?

4. Nehmen Sie eine volle Tasse in die Hand und halten Sie diese zwei Minuten in die Luft.
VERGLEICH: Nehmen Sie noch einmal Ihre Tasse in die Hand, nun stellen Sie aber den Ellenbogen auf einem Tisch oder Kissen ab.

In der Pädiatrie (Kinderheilkunde) sprechen wir von Kinästhetik Infant Handling. Hier stehen die Bewegungsaspekte der menschlichen Entwicklung im Vordergrund. Wie lernt ein Kind sich vom Rücken auf den Bauch zu drehen? Wie lernt es zu sitzen? Wie lernt es, sich fortzubewegen? Das Konzept ist jedoch das gleiche wie bei Erwachsenen.

Wie Sie bei den Bewegungssequenzen an sich selbst beobachten konnten, sind es oft Kleinigkeiten, die eine große Veränderung bewirken. Man nimmt diese allerdings nur wahr, wenn man einen Vergleich hat und man seine Wahrnehmung darauf ausrichtet. Nur wer sich selbst seine Bewegung bewusst macht, kann sich auch in die Bewegung von Kindern und Babys hineinversetzen und diese dann in ihrer Entwicklung unterstützen und fördern.

Infant Handling im Bürger­hospital

Da das Bürger­hospital das geburtsstärkste Haus in ganz Hessen ist, planen wir, auch im Bereich der entwick­lungs­för­dernden Pflege und kindlichen Wahrnehmung einen Schwerpunkt zu setzen. Auf der neonatologischen Intensivstation hier im Bürger­hospital, auf der wir Frühgeborene und kranke Neugeborene versorgen, haben wir uns mit dem Thema Kinästhetik auseinandergesetzt und uns als Ziel gesetzt, den Eltern und Kindern möglichst viele Maßnahmen aus diesem Bereich der Entwick­lungs­för­de­rung mit auf den gemeinsamen Weg zu geben. Das Infant Handling soll hier im Bürger­hospital in die Pflege integriert werden und auch in der Elternanleitung eine wesentliche Rolle spielen. Um Kinästhetik in die Pflege und Anleitung mit Eltern einbinden zu können, muss sich zuerst das Pflegepersonal seiner Bewegungsabläufe selbst bewusst werden und diese überdenken. Immer von sich selbst ausgehend kann man relativ leicht erkennen, wann man physiologische, natürliche Bewegungen durchführt und wann nicht. Auf der neonatologischen Intensivstation haben wir das Wickeln unter dem Aspekt Kinästhetik – Knochen und Muskeln eingeführt. Diese möchten wir auch in der Elternanleitung umsetzen und den Eltern auf diesem Wege mitgeben.

DAS WICKELN – unter dem Teilkonzept „Knochen und Muskeln“

Am Beispiel des Wickelns lässt sich das Vorgehen beim Infant Handling gut darstellen. Je nach Alter des Kindes wird dieses sechs bis zehn Mal am Tag gewickelt. Das bedeutet pro Woche im Schnitt ca. 60-mal! Wickeln ist somit ein sehr häufiger Bewegungsablauf, den Eltern mit ihren Kindern durchführen.

Bevor Sie nun weiterlesen, überlegen Sie bitte einmal, wie Sie ein Kind oder eine pflegebedürftige Person wickeln würden

  • Wie liegt es da?
  • Wo fassen Sie es an?
  • Wie drehen Sie das Kind?

Die meisten Menschen wickeln Babys, indem sie die Beine des Kindes an den Knien, in der Kniekehle oder an den Beinen nach oben drücken. Manche nennen diese Methode „Hähnchengriff“. Viele haben es so gelernt. Allerdings gibt es Aspekte, aufgrund derer diese Methode als nicht entwicklungsfördernd einzustufen ist. Im Gegenteil: Diese Bewegungen sind sogar absolut unphysiologisch und können mitunter zu massiven Problemen führen.

Denn:

  • Die Darmdurchblutung und die Darmperistaltik (Darmbewegung) wird stark vermindert, da der Bauch und somit der Darm „zusammengequetscht“ werden.
  • Das Kind baut eine hohe Körperspannung auf und erlebt dadurch eine sehr hohe Anstrengung.
  • Die Gelenke werden blockiert, da diese Bewegung absolut unnatürlich ist.
  • Bei Frühgeborenen kann es sogar zu Hirndruck und somit auch zur Hirnblutung kommen.

Die kinästhetischen Wickelmethode

Bei der „neuen“, kinästhetischen Wickelmethode wird dagegen über die Seite gewickelt. Wichtig ist dabei vor allem, dem Kind auf keinen Fall in die Gelenke zu fassen (Abb. 1). Die Windel wird normal geöffnet. Um das Kind auf die Seite zu drehen, wird es immer an den festen Strukturen angefasst, also an den Stellen, an denen man den Knochen spürt - Oberschenkel, Unterschenkel, Hüftknochen, knöcherne Struktur des Knies. Jetzt wird der Po auf der Seite gesäubert. Der Oberkörper kann liegen bleiben.

Alle Bewegungen, durch die die Position des Kindes verändert wird, sollten langsam erfolgen (Abb. 2). Die alte Windel sollte mit dem Klebeverschluss nach unten verschlossen werden, um ein erneutes Verschmutzen des Windelbereiches zu vermeiden. Die neue Windel kann entweder von Anfang an untergelegt werden oder sie wird jetzt an der Seite, auf der das Kind nicht liegt, unter die alte Windel gelegt (Abb. 3). Während der Drehung auf die andere Seite wird das Kind über die alte Windel gedreht (Abb. 4). Das Kind liegt teilweise noch auf der schmutzigen Windel, daher kann nun der Rest gesäubert werden. Im Anschluss wird die alte Windel entfernt. Das Kind liegt nun komplett auf der neuen Windel, diese kann verschlossen werden und das Kind kann wieder angezogen werden.

In der Kinästhetik geht es darum zu verdeutlichen, dass jeder Mensch andere Schwerpunkte und Wahrnehmungen in den Bewegungen hat. Meist wird die Bewegung mit Hilfe von Gewichts­ver­lage­rung, Körperspannung und Anstrengung durchgeführt. Allerdings ist es bei jedem unterschiedlich, wie viel Anstrengung jeder selbst benötigt abhängig davon, welche Hilfestellung man zur Verfügung hat. Anstrengung bedeutet vor allem bei Kindern Unruhe, Unwohlsein, Stress und bei Neugeborenen und kranken Kindern evtl. auch Schmerzen. Es sollte das Ziel sein, die Entwicklung in allen Bereichen zu fördern. Durch dieses Umdenken gibt man dem Kind oder der zu pflegenden Person eine Bewegungserfahrung, die es bzw. sie zum Drehen, Sitzen und zum Aufstehen benötigt. Das ist Entwick­lungs­för­de­rung!

Petra Berger

Quellenangabe

1. Überarbeitete Auflage 2007 Bildungssystem MH Kinästhetics; Teil1: Konzeptsystem; Maietta-Hatch

Weiterführende Informationen

Klinik für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin

Klinik für Neugeborenen-, Kinderchirurgie & -urologie

Perinatal­zentrum Level 1

Pflege am Bürger­hospital Frankfurt

Gesundheitsthema: Atem­un­ter­stüt­zung mit MH Kinaesthetics© - oder: Was haben Füße mit der Atmung zu tun?

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