
Gesundheitsthemen | Neugeborenen-, Kinderchirurgie & -urologie
Ohne Druck und Scham - Wie die Urotherapie Kindern beim Kontinenztraining hilft
Wir erleben, dass viele Eltern sich massiv unter Druck gesetzt fühlen, wenn ihr Kind nicht bis zum Kindergartenalter seine Blase und/oder seinen Darm kontrolliert entleeren kann“, erzählt Annette Klöpper, Urotherapeutin am Bürgerhospital Frankfurt. „Dabei muss ein Kind gar nicht mit drei Jahren trocken sein.“ Der Leidensdruck besteht anfangs auch meist nur auf Seiten der Eltern. „Kindergartenkinder stört die Windel nachts oder die nasse Hose tagsüber selbst gar nicht. Erst im Grundschulalter empfinden Kinder solche Situationen als unangenehm und wollen von sich aus etwas daran ändern“, ergänzt sie.
Anfragen von Eltern erreichen die Urotherapie, einem Teilbereich der Klinik für Neugeborenen-, Kinderchirurgie und Kinderurologie am Bürgerhospital Frankfurt, oft, wenn die Kinder erst vier Jahre alt sind. Je nach Leidensdruck in den Familien, etwa wenn ein Kind mehrmals pro Stunde zur Toilette muss, findet auch ein erstes Kennenlernen statt. „Manchmal können wir in diesem Alter schon durch kleine verhaltenstherapeutische Maßnahmen die richtigen Weichen stellen, etwa indem wir das Trinkverhalten eintakten. Wir warnen aber Eltern davor, in diesem Alter schon Druck auszuüben und zu ehrgeizig zu sein, wenn die Kinder noch nicht so weit sind“, erklärt die gelernte Kinderkrankenschwester.

Protokolle geben ersten Einblick
In welchem Alter auch immer die Kinder sind - bevor Eltern ihr Kind in der Kinderurologie am Bürgerhospital vorstellen, müssen sie zu Hause genaue Beobachtungen aufzeichnen. Über mehrere Tage bzw. Wochen protokollieren sie die Trinkmengen und die Toilettengänge. Sie beantworten außerdem Fragen zur Häufigkeit des Einnässens (Enuresis), Einkotens (Enkopresis) oder zu Verstopfungen (Obstipation) sowie zum allgemeinen Gesundheits- und Entwicklungsstand des Kindes. Mitunter stellt sich bei ihren Notizen schon ein Aha-Effekt für Eltern ein, indem sie ungünstige Angewohnheiten erkennen.

Gründliche Anamnese vor Diagnosestellung
„Wir erfragen all diese Informationen, um einen möglichst genauen Eindruck von der Ist-Situation zu erhalten. In Kombination mit anschließenden Gesprächen und Untersuchungen können wir eine genaue Diagnose stellen und letztlich auch die richtigen Maßnahmen in die Wege leiten“, begründet Annette Klöpper die akribische Vorarbeit.
Das erste Kennenlernen geht dann mit einer gründlichen Anamnese einher. Es wird abgeklärt, ob etwa körperliche Ursachen zu Grunde liegen: Gibt es Probleme mit den Nieren oder Harnleitern? Liegt eine Wahrnehmungs- oder Autismusspektrumsstörung vor? Hat das Kind Diabetes oder Darmanomalien? Wenn ja, sucht die Urotherapeutin ärztlichen Rat bei der Kinderchirurgie und -urologie des Bürgerhospitals oder der Nephrologie am Clementine Kinderhospital.
Den Ursachen auf der Spur
Kann eine Grunderkrankung dagegen ausgeschlossen werden, wird auf die Angewohnheiten und Lebensumstände geschaut: Vergisst das Kind, tagsüber zu trinken und holt alles am Abend nach? Ekelt es sich vor den Toiletten in der Schule oder hat es dort negative Erfahrungen gemacht? Könnten Missbrauchserfahrungen vorliegen?
Zudem wird der Frage nachgegangen, ob die Probleme vielleicht hausgemacht sind: „Nicht selten wurde den Kindern zu oft vermittelt, dass sie ihren Urin einhalten sollen. Dabei halten sie dann unbeabsichtigt auch den Stuhlgang ein. Oder die Kinder trinken weniger, damit sie sich nicht einnässen. In beiden Fällen kann eine chronische Verstopfung die Folge sein“, erklärt Annette Klöpper. Der volle Darm drückt dann auf die Blase und verschlimmert die Inkontinenz. „Hinzu kommt, dass der Urin zu konzentriert ist, wenn die Trinkmenge zu gering ist. Dies reizt die Blase und der Urin kann weniger gut gehalten werden. Außerdem kann eine untrainierte Blase weniger Urin sammeln“, erklärt sie den Zusammenhang.

Individuelle Maßnahmen für das Kontinenztraining
Die gute Nachricht ist: Dieser Teufelskreis kann durchbrochen und die Blase trainiert werden. Zunächst werden die betroffenen Kinder zu einem Gruppentag eingeladen. Gemeinsam mit anderen Kindern und ihren Eltern erfahren sie in einer anschaulichen Schulung, wie Kontinenz entsteht. Durch die Schulung als Gruppe sehen sie, dass sie mit ihrer Situation nicht allein sind, und auch die Eltern können sich austauschen. Zugleich werden die Kinder an diesem Tag von einem Kinderchirurgen gründlich untersucht. Die Kinder trinken nach Plan und notieren die Trinkmenge. Kleine Spiele und Wettbewerbe helfen, die Trinkmenge zu steigern.

Beim Wasserlassen misst dann eine mit einem Uroflow Gerät präparierte Toilette den Urinstrahl. In der Auswertung kann Annette Klöpper ablesen, wie lange die Blasenentleerung dauert, ob die Blase mit Unterbrechungen entleert wird und wie viel Druck der Harnstrahl aufweist. All das sind wichtige Parameter bei der Einordnung des Problems. Außerdem wird nach jedem Toilettengang die Blase mit Ultraschall untersucht, um zu sehen, wie viel Restharn darin enthalten ist.
Sind alle Untersuchungen erfolgt, werden individuelle Maßnahmen für das Kontinenztraining festgelegt. Fast immer ist der erste Schritt ein ausreichendes und regelmäßiges Trinken. Für dieses Ziel gibt es verschiedene verhaltenstherapeutische Möglichkeiten zur Auswahl. So kann eine durchsichtige Trinkflasche helfen, die mittels Markierungen anzeigt, bis zu welche Tageszeit oder Schulpause welche Menge getrunken werden soll. Oder die Kinder erhalten eine bestimmte Anzahl an Armbändchen und mit jedem Glas Wasser wechselt ein Armbändchen an das andere Handgelenk. Alternativ gibt es auch eine Trinkuhr, die mit einem Alarmsignal ans Trinken und an den Toilettengang erinnert. Mit dem Trinken kann die Blase gezielt groß trainiert werden, die Harnwege werden gespült, der Stuhlgang normalisiert sich.
Altersgerechte Einbindung
„Wir legen Wert darauf, die Kinder in ihrer Situation abzuholen und ihnen eine altersgerechte Möglichkeit zu geben, mit ihrer Inkontinenz umzugehen, ohne dass sie gehänselt werden“, begründet Annette Klöpper den Einsatz der Hilfsmittel. Dabei empfiehlt sie Eltern auch, mit Belohnungen zu arbeiten, etwa wenn das Trinken eine Woche gut funktioniert hat. „Wir halten nichts davon, nur das Trockensein auszuzeichnen, sondern raten eher dazu, das Mitmachen zu belohnen.“
Nach einem vorher vereinbarten Zeitraum erfolgt eine Erfolgskontrolle im Bürgerhospital. Dabei wird besprochen, was gut funktioniert hat, wo Anpassungsbedarf besteht und welche nächsten Ziele es zu erreichen gilt. Je nach Schwere der Inkontinenz, Alter des Kindes und der familiären Situation erfolgt diese Besprechung alle vier Wochen bis alle drei Monate.
Eine Vielzahl an Möglichkeiten
Rund 80 Prozent der Kinder erfahren bereits durch die veranlassten Maßnahmen eine deutliche Verbesserung ihrer Situation. Für die Kinder, die weitere Unterstützung benötigen, gibt es weitere Möglichkeiten für das Kontinenztraining. Manchen Kindern hilft es zum Beispiel, mit einem Biofeedbackgerät ihre Körperwahrnehmung zu schulen. Mit Klebeelektroden auf der Haut können sie über gezieltes Anspannen und Entspannen des Beckenbodens an einem Monitor eine Blume aufblühen oder einen Schmetterling fliegen lassen. Andere Kinder benötigen vielleicht doch medikamentöse Unterstützung zur Darmregulierung. Oder sie müssen lernen, ihren Darm regelmäßig über Spülungen zu leeren. Wieder anderen Kindern hilft eine Klingelhose, die sie nachts weckt, wenn sie einnässen. Bei manchen Kindern muss die ständig gereizte Blase medikamentös beruhigt werden.

Welche Mittel und Wege letztlich notwendig sind, wird gemeinsam mit allen Beteiligten entschieden. „Es gibt nicht den einen richtigen Weg und schon gar nicht eine schnelle Abkürzung. So ist eine vorschnell verordnete Klingelhose ohne eine eingehende Diagnostik manchmal sogar kontraproduktiv“, erklärt Annette Klöpper. „Es kann sein, dass der Weg zum Trockensein langwierig und mühsam ist. Aber gemeinsam können wir den Kindern helfen, einen guten Weg zur Kontinenz zu finden. Eltern und Kinder sollen wissen, dass sie mit ihrem Problem nicht allein sind.“
Urotherapie für Blasenkontrolle
Die Urotherapie am Bürgerhospital Frankfurt ist ein Teilbereich der Klinik für Neugeborenen-, Kinderchirurgie und -urologie unter der Leitung von Chefärztin Dr. med. Sabine Grasshoff-Derr. Behandelt werden Kinder und Jugendliche zwischen vier und 16 Jahren mit Problemen bei der Blasen- oder Darmentleerung. Annette Klöpper ist Kinderkrankenschwester, die eine Fachweiterbildung zur Urotherapeutin absolviert hat und seit 2018 viele Patienten aus dem Rhein-Main-Gebiet und aus ferneren Gebieten Deutschlands bei ihrem Weg zur Sauberkeit begleitet hat.